Kratzls erbauliches Chaos
Der Standard 11/1995
Das Bühnenbild ist diesmal geradezu üppig: eine Schamanen-Rassel, ein chinesisches Gleichnis-Gönglein und ein roter Plüsch-Sessel. Am Wesentlichen aber hat sich nichts geändert: Karl-Ferdinand Kratzl ist und bleibt jenes kabarettistische Unikum und Kuriosum, als das er vor gut einem halben Jahrzehnt auf der Bildfläche der Kleinkunst erschien. Und es ist trotz der Jahre alles andere als abgenutzt. Vielleicht nur etwas runder als zu Beginn, nicht mehr so justament verschroben, kantig und aneckend. Kein Wunder, kennt er doch inzwischen seine Stärken genauso wie die Schwächen seines Publikums aus- und inwendig.
„Der Heilige Strohsack“, der am Dienstag im Kabarett Niedermair seine Premiere erlebte, mutet demzufolge fast wie ein „Best-of-Kratzl“ an. Der wandlungsfähigen Hauptfigur, dem heiligen Strohsack (Prinzessin? Orang-Utan-Sprachforscher? Zen-Mönch?) liegt besonders die Lyrik am Herzen: wienerlied-athmosphärische Poesie-Perlen und Kunstgedicht-Karikaturen, die diesem Großstadtschamanen und ganztägigen Schlafwandler ebenso wie seine verfremdeten und entstellten Klassiker wichtige Mittel zur Herzenserwärmung der geneigten Zuschauer sind.
Ein dem „erbaulichen Chaos geweihter Abend“, nennt er seinen sprunghaften Vortrag über seine Lehrmeisterin, die „Anti-Horror-Helga“, und über Samenbank-Überfälle – zum Zwecke der effektiven Verbreitung des eigenen Ebmaterials. Insgesamt gesehen eine Figur, für deren Beschreibung der Begriff welt-fremd eine geradezu beleidigende Untertreibung wäre : Eigentlich hat sie Angst vor dem Feuer, doch viel mehr plagt sie die Sorge, ob sie vor ihrer Abreise auch wirklich den Wasserhahn zugedreht hat. Eigentlich steht sie sehr auf Fleischhauerinnen, aber ihre Ein-und-Alles-Speise sind Erdäpfel. Vor allem die grünen, weil man von ihnen so angenehm blöd wird.
Wenn sich Karl-Ferdinand Kratzl mitsamt seiner clownesken Leibesfülle selbst derartig hinterhältig ins Wort und in den Rücken fällt und dazu noch – von vorne-unten scheinwerferbe-schienen – elfengleich Tanzschritte vollführt, kennt die Freude über soviel lustvolle Selbstentäußerung kein Halten mehr. Das ist nicht etwa peinlich, sondern Unterhaltungskunst pur. Seine Scheu vor Pointen hat Kratzl abgelegt, selbst vor den jahrelang verpönten Schlussgags. Eine wohltuende Entwicklung, die seinem Kuriositäten-Kabarett endlich jene Anerkennung ermöglichen sollte, die ihm schon längst hätte zuteil werden sollen. In diesem Stil kann er es sich sogar leisten, der heiteren Stimmung unmittelbar vor Programm-Ende mit einer rührenden Erzählung derartig den Garaus zu machen, dass er die Bühne in der anschlieflenden totalen Stille verlassen muss.
Wer dieser heilige Strosack nun wirklich ist, wofür er stehen mag und ob er eine homogene Figur ist, sind irrelevante Fragen. Wir sind im Kabarett und nicht im Charakter-Komödie-Seminar. Hauptsache, er bietet Kratzl alle notwendigen Vorwände und Anlässe, um seine einzigartigen Qualitäten derart geballt auf die Bühne zu bringen.
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