Seelenpfiffe aus dem letzten Loch
Der Standard 10/2000
Es ist natürlich eine Binsenweisheit, aber im Fall von Sigi Zimmerschied ist es angebracht, sie kurz zu wiederholen : Ein Kabarettist, der auf der Bühne einen Kabarettisten darstellt, ist nicht unbedingt ident mit seinem Protagonisten. Denn gerade bei Zimmerschied wäre es so einfach, Künstler und Figur in einen Topf zu schmeißen. Doch einer, der eine Stunde lang voll boshaftem Abscheu über Kabarett-Veranstalter, Journalisten, Schauspieler und anderes Gesocks herzieht, steht nicht nach der Premiere entspannt an der Bar, um mit einem Schauspieler über italienische Rotweine, einer Journalistin über den sichtbaren Erfolg seiner Diät und mit der Veranstalterin über die Schönheiten des Zentralfriedhofs zu Allerheiligen zu plaudern. Das nur vorweg.
Zimmerschied hat sein bühnenbildnerisch opulent konzipiertes Solo “Ihobs” für die auswärtigen Gastspiele “von der Shakespeare-Version auf Becket-Format” reduziert. Kein Boxring, keine Brücke, nur eine provinzielle, unterbelichtete Künstlergarderobe, in der einen Kabarettisten nach der gefeierten Vorstellung die ganz große Übelkeit überkommt. Durch eine heimfahrtverhindernde Schlechtwetterfront zur einsamen Beschäftigung mit sich selbst genötigt, geht er erst einmal wie ein Rohrspatz mit seinen Feinden ins Gericht. Und Feinde sind sie alle. In erster Linie der Allmächtige, der vermeintlich einen ganz besonderen Pick auf ihn hat. Von wegen göttliche Gerechtigkeit. Auch das Publikum kommt nicht ungeschoren davon. Anhand der Besucherliste nimmt er sich einige sogar namentlich vor. Doch es wäre nicht ein Stück von Zimmerschied, bliebe es beim imposant-amüsanten Austeilen: ”Sprachtäter?! Das Maul is da Notausgang vom Hirn. Do triffst nur Sanitäter.”
Je lauter die Überdruck-Ventile der geprüften Seele aus den letzten Löchern pfeifen, umso mehr gerät auch der gut gehütete Bodensatz in Wallung. Und wenn es den durch die Dauerbelastung brüchig gewordenen Kessel schließlich zerreisst, muss die jahrelang hermetisch aufgestaute Armseligkeit plötzlich wehrlos und verzweifelt nach Rettungsringen rudern.
Problemlos ließe sich”Ihobs” als persönliche Abrechnung Zimmerschieds mit seiner Umwelt interpretieren und auf einen besonders boshaften, höhnischen Rundumschlag reduzieren. Doch das ist nur die leichtfassliche, halbe Wahrheit. Und in der anderen Hälfte steckt das Wesentliche : die langfristig machtlosen Über- und Weiterlebens-Mechanismen, mit denen der Gerechte seinen unvermeidlichen Leidensdruck zu bändigen versucht. Zimmerschied spielt seiner Kreatur die verletzliche Seele aus dem schützenden Leib. Und wir dürfen zuschauen. (pb)
- “Ihobs”, bis 4.11. in der Kulisse, 17., Rosensteing. 39, 485 38 70. 20.00
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